MUSEUM GEGENSTANDSFREIER KUNST IN OTTERNDORF
Formfragen im Zweckbau
Seit 1961 fördert und sammelt es Zeitgenössisches. Ginge es nach dem örtlichen Denkmalschutz, würde sich das Museum gegenstandsfreier Kunst besser ins pittoreske Otterndorfer Kleinstadtambiente einfügen. Tut es nicht - und das ist gut so.
OTTERNDORF taz | Erst ist da dieser leise anschwellende Ton. Ein dünner Strich zieht sich über das Gebäude, das sich vor einem nachtblauen Himmel erhebt. Der Strich wandert, so als würde das Haus eingescannt. Dann teilt sich der Strich, der Sound schwillt an, das Haus wird überzogen mit Mustern und Farben, die sich in einem fort auflösen und neu zusammensetzen.
"Auch wenn wir auf den ersten Blick ein kleines Haus sein mögen, wir erfüllen alle Kriterien eines Museums: also Sammeln, Bewahren, Ausstellen, Forschen", führt die Leiterin aus. "Gegenstandsfreie Kunst ist unser Alleinstellungsmerkmal. Von allem ein bisschen zu zeigen, können wir uns nicht leisten. Das machen andere Häuser besser. Ich biete dafür das ganze Spektrum: von Malerei über Skulptur und Fotografie bis zur Videokunst."
Vor vier Jahren ist das Museum umgezogen, in eine ehemalige Filiale der Kreissparkasse Wesermünde-Hadeln: ein Zweckbau, quadratisch, praktisch, unverschnörkelt. Sehr zum Gram der örtlichen Denkmalpflegerin: Die hätte es gern gesehen, dass wenigstens die Fenster mit Sprossen verziert worden wären. Dann würde sich das Haus besser in die umgebende Altstadtbebauung einfügen, die an manchen Ecken so tut, als befände man sich noch immer im Mittelalter.
Überhaupt: Leicht hat es die Moderne Kunst nicht in Otterndorf, wo sich die Neugierde auf das Neue und, ja, das Unkonkrete, weil Konkrete zuweilen arg in Grenzen hält. Während früher in der Region durchaus ein gewisser Stolz gepflegt wurde, dass Kunst aus der großen Stadt hier ein Heim hat, muss sich Ulrike Schick immer wieder des Einwands erwehren, ein Bild, auf dem nicht gleich etwas zu erkennen sei, sei gar keine Kunst - weil ja nichts zu sehen sei.
Andererseits legen Kulturjournalisten bekannter Zeitungen schon mal entrüstet den Hörer auf, wenn sie erfahren, wo der Ort liegt, in dem Künstler wie Günther Uecker ausstellen. Und der örtliche Mann von der Deutschen Presseagentur, gleichermaßen zuständig für Schiffsunfälle auf der nahen Elbe, Trends in der Viehwirtschaft wie auch für die Kulturberichterstattung, unterlegte neulich einen Interviewbeitrag mit Schick für den NDR mit dem Grönemeyer-Lied "Was soll das?". "Auch die Grünen sind oft gegen uns", erzählt Schick, "und wollen das Geld lieber für Kindergärten ausgeben."
Dennoch: Das Haus hat bundesweit viele Freunde, auf die es sich stützen kann. So zählt schon der Förderverein über hundert Mitglieder, enthält die Sammlung mittlerweile Arbeiten von James Turrell, Antonio Calderara und Gotthard Graubner. Auch der Landkreis Cuxhaven steht fest hinter dem Museum und sorgt für eine einigermaßen auskömmliche Finanzierung.
"Ich arbeite mit internationalen Künstlern", sagt Schick. "Die kommen hierher, weil wir eine fundierte Sammlung haben und weil sie die fachliche Art der Betreuung genießen - nicht weil es Otterndorf ist." Es sind Künstler darunter wie der New Yorker Mark Sheinkman oder Ding Yi, Shen Fan und Yu Youhan aus Shanghai - letzterer gilt als Begründer der chinesischen Pop-Art.
Oder eben der eigentlich in Berlin ansässige Philipp Geist, der mit seinen Lichtinstallationen zuletzt neun Abende lang den Palast des Königs Bhumibol in Bangkok kontrastierte, woraufhin König und Projektion gleichermaßen von insgesamt 2,5 Millionen Besuchern gefeiert wurden. Nun verteilen sich eindrucksvolle Fotoarbeiten Geists im ganzen Haus, die eine ganz eigene Haptik ausstrahlen. In Hamburg, Bremen oder Hannover hätte man es sich kaum besser vorstellen können.
Und die Otterndorfer Räume sind wirklich schön: hell und funktional und großzügig. Wie geschaffen für eine Begegnung mit den Grundfragen von Proportion und Schwerpunkt, Regeln, Gesetzen und Rätseln der Formensprache. "Drüben die ,Puppenstube', wo tausend verschiedene Puppen zu sehen sind, die hat natürlich mehr Besucher", sagt Schick. Und empfiehlt Otterndorf-Besuchern einen Blick in die Briefe des Johann Heinrich Voß. Der übersetzte hier von 1778 bis 1782 die Texte der "Ilias" und der "Odyssee" ins Deutsche - und verstand seine Verzweiflung über Ignoranz und Banausigkeit der Einheimischen in galanten Spott umzuleiten.
"Wenn wir hier eine Eröffnung haben, kommen an die 70 Leute", erklärt die Museumsleiterin. Es komme darauf an, diese Zahl ins richtige Verhältnis zu setzen: "Wenn in einer Stadt wie Köln in ein Kunsthaus zu einer Ausstellungseröffnung 140 Leute kommen oder auch 200, dann ist das gemessen an der Gesamtbevölkerung schlicht weniger." Zur Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises für Literatur, der zuletzt - warum auch immer - an Hans-Dietrich Genscher ging, kamen auch nicht mehr als 150 Besucher in die örtlichen Seelandhallen.
Was schon mehr schmerzt, ist, dass auch die Bewohner der nächsten, einigermaßen richtigen Stadt sich kaum blicken lassen: Cuxhaven ist 17 Straßenkilometer weit weg. Oder zwölf Minuten von Bahnhof zu Bahnhof, ohne Zwischenhalt. Egal: Die Cuxhavener, besonders die jungen, beklagen sich lieber, dass im Landkreis nichts los sei, als nach Otterndorf zu fahren. Da ist es folgerichtig, wenn Philipp Geist zum Ende seiner Ausstellungszeit nach Cuxhaven geht und den dortigen Wasserturm in seine Farben- und Lichterwelt eintauchen lässt.
Nötig hat der Künstler sowas nicht: Geist saß gerade bei Ulrike Schick im Büro, die beiden planten und diskutierten, da erreichte ihn ein eiliger Anruf aus Neu Delhi: Ob er nicht auch dort einen Palast illuminieren könnte?
Einen kleinen, medienwirksamen Coup konnte neulich auch Ulrike Schick landen: Bundespräsident Christian Wulff rief an und fragte, ob sie nicht mal nach Berlin kommen könnte, ihn beraten in Sachen Kunst. Schick fuhr nach Berlin, und nun hängen 15 Werke aus der Otterndorfer Sammlung in Wulffs Amtssitz. "Das hat hier vor Ort schon Eindruck gemacht, dass einer wie der Bundespräsident sich für diese Richtung der Kunst interessiert und sie schätzt", erzählt sie. Und holt tief Luft: "Es gab aber auch wieder die Leute, die sagten: ,Was - son Scheiß hängt der sich hin?"